Air-Lines oder im Kosmos der globalen Ströme
Current meint nicht nur zeitgenössisch, aktuell, sondern auch Fließen und Strömung. Es ist mehr als zeitgemäß, das derzeitige Pulsieren von Menschen- und Datenströmen als neue Migration zu kennzeichnen. Ein nie geahntes Ausmaß an Waren, digitalen Daten und an Menschen wandert um und in unserem Globus von einem Ort zum anderen und stellt Raum wie Zeit vor eine neue Dimension. Globale Ströme sind realiter medial, geographisch, politisch, es sind Winde, Wasserströme, Finanzen, Waren und Rohstoffe, Drogen, Container, Flugzeuge und Schiffe, Daten, Pflanzen und Tiere, und eben auch Menschen. In den letzten zwei Dekaden hat sich weltweit ein radikaler wirtschaftlicher, sozialer und politischer Wandel vollzogen. Die neue Ära der Globalisierung oder des Informationszeitalters bis zur flüssigen Moderne zeitigt Veränderungen von räumlichen und zeitlichen Kategorien. Waren früher Faktoren wie Solidität, Stabilität und Ortsgebundenheit maßgebende Kennzeichen von Wohlstand und Macht, sind momentan Unbeschwertheit, Flexibilität und vor allem Ortsungebundenheit entscheidende Pluspunkte. Globale Daten- und Kapitalflüsse, transnationale Konzerne und internationale Migrationsbewegungen verändern das alltägliche Leben global und insbesondere auch lokal.
Alexander Ernst Voigt behandelt als Maler Flächen. Er schafft Bilder, die die Frage nach Abstraktion oder Figuration aufwerfen, das Malen selbst in das Zentrum der Betrachtung stellen. Voigt experimentiert fortwährend mit den Bedingungen des Mediums und richtet dabei sein Augenmerk speziell auch auf die klassischen wie zeitgenössischen Mittel der Bilderzeugung. In kleinen und großen Formaten, dem analogen Kleinbildformat 2:3 verpflichtet, beginnt er seine Analysen, indem er ähnliche Bildstrukturen immer wieder neu unter anderen bildnerischen Bedingungen variiert, präzise verschiedene Untergründe wählt, mit roher Leinwand oder lackierten Oberflächen arbeitet. Die Farbe wird teilweise auf die nasse Grundierung aufgetragen, ähnlich dem klassischen Fresko. Und mitunter entstehen auch direkt auf die Wand gearbeitete Gemälde – eine sehr direkt Kommunikation mit der Architektur und dem Raum. Wie unterscheiden sich die Bildfläche füllende Linien, wenn diese mit unterschiedlichen Pinselstärken oder verschiedenen Farbqualitäten gemalt werden, wie verhält sich Ölfarbe oder Acryl in Bezug zur gleichen Linie? Was kann Autolack und wie verhalten sich Kratzer? Ähnliche Strukturen werden unter den verschiedenartigsten malerischen Parametern untersucht.
Voigts Resultate dieser Untersuchungen sind aber weniger rein selbstreferentielle Illustrationen, sondern immer spannungsvolle Bilder, auf denen sich etwa parallel angeordnete Linien erkennen lassen, man diese aber als autonome Farbfelder und synchron als Landschaft und Natur wahrnimmt und interpretiert. Bis zu seiner neuen aktuellen Serie waren es meist florale, vegetabile, faszinierende Landschaften oder Pflanzen mit einer wunderbaren Suggestivkraft ohne (oder mittelbar) eine Zentralperspektive anzuwenden. Voigt bleibt immer auf der Fläche, er arbeitet wie ein Konstrukteur auf dem Tisch beinahe zeichnerisch konstruktiv, und appelliert an das räumliche Sehen und Vorstellungsvermögen unserer alltäglichen Seherfahrungen. Als ginge es um eine virtuelle Op Art, die den Betrachter ins Bild zieht und seine Augenfokussierung auf eine harte Probe stellt. Es flimmert immer ein wenig in seinen Bildern, wie bei Bridget Riley in ihren farbarmen Gemälden der 1960er Jahre – oder doch nur in unserem Kopf? Dies erinnert an die Übereinkunft des Betrachters mit dem Künstler im Sinne Ernst H. Gombrichs, der behauptet, dass „die Illusionen der Kunst nur in Ausnahmefällen Illusionen über unsere tatsächliche Umgebung“ sind. Mit dem Messer gekratzte Linien in die Farben und den Malgrund der Leinwand ergeben die schönsten Gräser. Die Oberfläche wird verletzt, aufgebrochen, in verschiedenen Winkeln und Graden, mit speziell angefertigten Kurvenlinealen. In den Verletzungen und Narben liegt dann der versiegelnde Klack wie ein Pflaster. Bei Current, Voigts neuesten Werken, erscheinen die zahlreichen Linien unter industriellem Autolack als Kurvaturen oder gestrichelte Verbindungslinien über Meeren und Kontinenten. Analoge Illusionen.
Jeder Strich im Werk von Alexander Ernst Voigt bewahrt zum einen seine Autonomie als malerisches Konstrukt, ist nie nur beschreibend oder mimetisch nachahmend, und doch sind seine Bilder oft auch Anleitungen zum Lesen der Welt unter kosmologischen Bedingungen. Die Firnis und Veredelung der Farbmaterialität unter der hochglänzenden Oberfläche des Autolacks spiegelt wie bei einer Glasarchitektur des Funktionalismus die Umgebung. Sie kommuniziert mit dem Umfeld und definiert den Raum des Bildes (hinter der Oberfläche) und den Raum des Betrachters vor dem Bild auf vielfältige Weise. Geradezu erhaben, übersinnlich und tiefgründig wirken seine neuen großformatigen Gemälde. Wie aus der Satellitenperspektive scheinen wir über Meere und Kontinente hinwegzugleiten, erfassen einen Ausschnitt der Welt, unseres Planten Erde mit seinen Türkis bis tiefblauen Wasserflächen und seinen grünlich-gauen bis bräunlichen Landmassen. Konstitutiv für des Erfassen von Land ist die Vermessung der Welt und der Blick von einem erhöhten Standpunkt oder aus einem Flugobjekt. Modernste Raumwahrnehmung in einem klassischen Medium. Wenn Voigt ein feines Liniengespinst zwischen die Erd-Assoziationen legt, folgen wir imaginativ Flugzeugrouten auf Interkontinentalstrecken, Kreuzungspunkte bilden die Hubs der Flughäfen, Luftfahrtunternehmen bilden Air-Lines, was als Begriff das Phänomen noch weitaus schöner beschreibt. Der Blick ist unerreichbar erhöht, früher waren es Felder aus der Vogelperspektive, heute umkreisen Satelliten die Erde und beobachten, zeichnen auf – Überwachung allerorten, unentrinnbar. Die eingangs geschilderten Ströme von Wind und Wasser, von Waren und Daten in einer global vernetzten Welt, sind wie auch aktuelle Flüchtlingsströme und das Internet zu Reizworten des modernen Lebens geworden. Wenn Alexander Ernst Voigt uns somit mit auf die Reise der Weltvermessung und -erfassung nimmt, entsteht ein Eindruck der Schwerelosigkeit, der universalen Zeit und des unendlichen, kosmologischen Raums. Seine Gemälde verströmen anders und viel stärker eine räumliche Tiefe im Material der Farbe und im Netz der dreidimensionalen Entfaltung unserer zeitgenössischen Weit- und Weltsicht. Sie schildern uns eine Atmosphäre, einen Luftraum zwischen Hintergrund, Linien und uns, aber auch eine Bildtiefe, eine unergründliche Tiefe jenseits, hinter der Farbe und der Leinwand. Jedoch, und das ist wesentlich, es handelt sich um Malerei, um Gemälde, um affirmative Gesten subjektiver Weltbeschreibung. Damit kehrt sich der Blick auf das Assoziative auch immer wieder zurück auf die Kunst und Ihre Kraft der kulturellen Identitätsbildung. Voigt richtet den Blick auf das Wesentliche, setzt auf Strukturprinzip statt Abbildung und schafft so Bilder, die in ihrer Wirkung ganz dem Medium selbst verpflichtet sind. Eine Erfahrung, die uns selbst fordert, Einhalt und Stille offeriert, und eine Melancholie zwischen diesen Ebenen bedient, die man auch moderne Romantik nennen könnte. Ein Vergleich mit der Serie Ozeane (2010) von Andreas Gursky drängt sich auf und zeigt den Unterschied. Während Gursky seine Werke mit originären fotografischen Daten von Satellitenbildern digital komponiert, aber als „reale“ Bildebene beibehält, ein „So-könnte-es-gewesen-sein“ künstlich erzeugt, übersteigern die monumentalen Werke die Dimension des alltäglichen Erfassens von Wirklichkeit und lassen sich gott-gleich bspw. als „Kommentar zur Klimadiskussion“ interpretieren. Unser blauer Planet stirbt, hieß das einmal.
Bei Voigt hingegen flackert eine derartige Auslegung vielleicht kurz auf, verschwindet dann wieder auf einfühlsam-sinnliche Art und Weise, um der malerischen Seins-Ebene Platz zu machen. Jedes gemalte Bild ist ein Original und seine Malerei zeitigt das Dasein als blauen Tiefenraum in einem erstaunlich konstruktiven, graphischen Verfahren, wie es bei den floralen Motiven und Landschaften von ihm verstärkt betrieben wurde. Der Mehrwert der neuen Bilder liegt in ihrer hinzu gewonnenen, atmosphärischen Freiheit: Die romantische Sehnsucht und das metaphysische Streben nach dem Unendlichen werden gestalterisch in den Strömungs-Linien festgehalten und aufgefangen. Das kann man auch eine kommunikationsorientierte Umwertung nennen, ein Gewinn an stillem Verständnis für die Welt und die Kunst – als Malerei, denn Voigt ist eindeutig ein Maler. Alles andere ist reine Spekulation.
Gregor Jansen